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Deutsche Akademie für Akupunktur | DAA e.V.

ÖTZI - Der Mann aus dem Eis

Stammt die Akupunktur nun aus China oder aus Europa? Forschungen zu den Tätowierungen der Mumie aus den Ötztaler Alpen lassen Zweifel aufkommen. Erfahren Sie in unserem Themenvideo mehr darüber.

Antirheumatische Akupunktur beim Mann aus dem Eis vor 5200 Jahren

Zusammenfassung

An der Hautoberfläche des 1991 in Tirol entdeckten "Mannes aus dem Eis" wurden insgesamt 47 strichförmige Tätowierungen entdeckt, die in 15 Strichgruppen zusammengefaßt sind. Diese Tätowierungen liegen nicht nur in einem hohen Prozentsatz an Lokalisationen klassischer Akupunkturpunkte, sondern entsprechen aus der Sicht der Akupunktur einer konstitutionellen, antirheumatischen Therapie. Nachdem die ältesten Zeugnisse einer Akupunktur-Anwendung in China aus dem 2. Jhd. v. Chr. stammen, der Mann aus dem Eis jedoch vor 5200 Jahren gelebt hat, kann durch diese Entdeckung der Ursprung der Akupunktur um drei Jahrtausende vordatiert werden. Auch kann China nicht mehr als isolierter Entstehungsort der Akupunktur angesehen, sondern die Entwicklung dieser Methode in einem größeren, euroasiatischen Zusammenhang gesehen werden.

Einleitung

In September 1991 wurde am Similaungletscher in Tirol in 3200 m Seehöhe eine Mumie entdeckt, die seither Einblicke in die Zeit der Jungsteinzeit wie noch kein anderer Fund zuvor gewährt hat. Sie hat bereits in verschiedenen Fachbereichen Anlaß zu völlig neuen Interpretationen geliefert. Ähnliches ist für die zukünftige, historische Beurteilung der Akupunktur zu erwarten. Die 47 Tätowierungen am Mann aus dem Eis stehen nämlich in einem Zusammenhang mit dieser alten, medizinischen Methode.

In den letzten Jahrzehnten wurden bereits mehrere Mumien entdeckt, die auf ihrer Körperoberfläche Tätowierungen aufweisen. Einige Mumien tragen offensichtlich ornamentale Tätowierungen, während andere Hautzeichnungen aufgrund der Lokalisation am Körper, ihrem Aussehen oder anderer Faktoren nicht als ornamentale Tätowierungen verstanden werden können.

Die Hamburger Archäologie-Professorin Renate Rolle wies bereits 1992 im Beispiel einer skythischen Mumie darauf hin, daß Schmucktätowierungen und andersartige Tätowierungen auch gleichzeitig vorkommen können (Abb. 1). Auf dieser Abbildung ist sehr gut der unterschiedliche Charakter der kunstvollen Tätowierungen am Oberkörper und der einfachen, punktförmigen Hautmarken im Bereich der Lendenwirbelsäule ersichtlich. Frau Prof. Rolle ging mit Sicherheit davon aus, daß die einfachen Tätowierungen zu therapeutischen Zwecken angefertigt wurden. Sie verwies in ihrer Argumentation auf vergleichbare, therapeutische Praktiken in Tibet und Indien.

Der Innsbrucker Archäologie-Professor Konrad Spindler fand Mumien mit vergleichbaren Tätowierungen in der Necropolis von Chiribaya Alta im südlichen Peru (Abb. 2). Wieder erkennt man aufwendige Schmucktätowierungen an den Armen und einfache, kreisförmige Hautzeichnungen am Nacken, der bei den peruanischen Ureinwohnern von Haar und Kleidung bedeckt war. All diesen Funden ist eines gemeinsam: Die Tätowierungen weisen eine sehr einfache, schmucklose Form auf und finden sich an Körperstellen, von denen nicht angenommen werden kann, daß sie zur Schau gestellt werden. In allen Fällen kann wie bei den Tätowierungen des Eismanns schon allein aufgrund der angegebenen Gründe davon ausgegangen werden, daß sie zu therapeutischen Zwecken angefertigt wurden. Diese Annahme wird durch den radiologischen und computertomographischen Befund des Eismanns unterstützt: Er weist eine mäßig- bis mittelgradige Spondylose, Coxarthrose, Gonarthrose und Sprunggelenksarthrose auf.

Im Juni 1998 fiel dem Münchner Akupunkturarzt Frank Bahr auf, daß die Tätowierungen des Eismanns zum größten Teil auf dem Blasenmeridian und damit auf jener Leitbahn liegen, die in der Therapie von Lumboischialgie in erster Linie herangezogen wird. Der Grazer Akupunkturarzt Leopold Dorfer übernahm die weitere Erforschung dieses Zusammenhangs und wertete die Daten gemeinsam mit dem Grazer Physiologen Maximilian Moser aus. Die Ergebnisse mündeten in einer Veröffentlichung in "Science" am 9. 10. 1998.

Methodik

Sämtliche Tätowierungen wurden von Dorfer im Rahmen einer Visite des Eismanns in der Spezial-Konservierungskammer in Bozen persönlich vermessen, fotografiert und auf Millimeterpapier nachgezeichnet. Außerdem wurden die Lokalisationen der Tätowierungen in Bezug zu den anatomischen Verhältnissen am Eismann exakt untersucht.

Das chinesische Relativmaß "cun" wurde berechnet. Dieses bildet in der Akupunkturliteratur die Basis für die Angabe von Punktelokalisationen. Es entspricht der Breite des Interphalangealgelenks des Daumen bzw. exakt definierten Bruchteilen der Längen von Femur, Tibia und Radius. Für den Eismann wurde 1 cun mit 22 Millimeter berechnet. Die Meßdaten von der Mumienoberfläche wurden auf das chinesische Relativmaß "cun" umgerechnet und mit den Angaben der klassischen Punktelokalisationen verglichen. Auch die anatomischen Befunde wurden den Angaben von Akupunktur-Lehrbüchern und -atlanten gegenübergestellt.

Ergebnisse

Von den 15 Tätowierungsgruppen (zwei Kreuze und dreizehn Gruppen mit parallelen Strichen) liegen neun exakt auf bzw. weniger als 5 mm von einem klassischen Akupunkturpunkt entfernt. Zwei weitere Strichgruppen liegen auf einem klassischen Meridian. Eine Strichgruppe steht in keinem Bezug zum Meridiansystem, liegt aber als lokaler Punkt auf dem arthrotisch veränderten, rechten Sprunggelenk. Drei Tätowierungen sind 6 bis maximal 13 Millimeter von nächstgelegenen Akupunkturpunkt entfernt.

Diskussion

Bei der therapeutischen Anwendung der Akupunktur geht man davon aus, daß Perforationen der Haut an spezifischen Lokalisationen, den Akupunkturpunkten, zu reflektorischen Veränderungen in der Funktion innerer Organe führen. Verschiedenste Effekte sind wissenschaftlich nachgewiesen: Steigerung der Perfussion, Senkung des Muskeltonus, Immunmodulation und eine antiinflammatorische Wirkung. Zudem kommt es im Zentralnervensystem zum Freisetzen von Endorphinen und Enkephalinen sowie zur Veränderung der Liquorspiegel von Serotonin, Acetylcholin und anderer, neurophysiologisch wirksamer Substanzen.

Bezüglich des Entwicklungsgrades der Akupunktur unterscheiden wir drei Stufen: Die einfachste Form der Akupunktur ist die sogenannte "locus dolendi Akupunktur", wobei eine Nadelstimulation einer Hautzone in unmittelbarer Nähe des erkrankten Körperteils gesetzt wird. Die zweite Entwicklungsstufe der Akupunktur verwendet bereits sogenannte Fernpunkte, von denen bekannt ist, daß sie reflektorisch auf das erkrankte Körpergebiet einwirken können, obwohl sie weit davon entfernt liegen. Bei der Anwendung der dritten und höchsten Entwicklungsstufe, der "konstitutionellen Akupunktur", versucht der Therapeut, auf die grundlegenden Schwächen eines Patienten einzugehen, diese auszugleichen und so einen möglichst tiefgreifenden und dauerhaften Effekt zu erzielen.

Im Fall des Eismanns findet sich nicht nur die "locus dolendi Akupunktur" in Form von Punkten, die direkt über der artrotisch veränderten LWS und den erkrankten Beingelenken liegen. Vielmehr wurde auch die zweite Akupunkturform mit Fernpunkten bereits damals angewendet: In der gesamten Akupunktur-Literatur ist der Punkt "Blase 60" als Meisterpunkt für Schmerzen entlang des Blasen-Merdians angeführt (5, 6, 7). Genau im Bereich dieses Punktes liegt hinter dem linken Außenknöchel ein kleines, tätowiertes Kreuz.

Sogar die höchst Entwicklungsform, die konstitutionelle Akupunktur, fand bereits beim Eismann Anwendung: Zur Therapie von tiefliegenden, rheumatischen Schmerzen, Knochen- und Gelenksveränderungen und Beschwerden, die sich vor allem unter Kälteeinfluß verstärken, werden noch heute in der Literatur vor allem zwei Punkte angegeben (5, 6, 7): Blase 23 in der Höhe des 2. und 3. Lendenwirbelkörpers, zwei Fingerbreiten lateral der Dornfortsätze und der Punkt Niere 7, zwei Daumenbreiten oberhalb des Innenknöchels direkt vor der Achillessehne gelegen. Diese beiden Punkte wurden beim Mann aus dem Eis exakt getroffen. Somit kann festgestellt werden, daß durch diese Entdeckung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die historischen Ursprünge der Akupunktur, die bisher mit etwa 1000 v. Chr. angegeben wurden, um über 2000 Jahre auf 3200 v. Chr. vordatiert werden können. Daneben ist die bis dato gängige Vorstellung zu revidieren, daß die Akupunktur ausschließlich im fernen Orient entwickelt wurde und in unserem Kulturkreis keine entsprechenden Therapieformen vorhanden waren. Vielmehr ist anzunehmen, daß im mitteleuropäischen Raum bereits hunderte Jahre vor der Lebenszeit des Eismanns Vorformen der Akupunktur praktiziert wurden und der hochentwickelten Akupunktur-Methodik, die wir am Eismann erkennen können, eine intensive Entwicklungsphase vorausging. Somit wird der jungsteinzeitlichen mitteleuropäischen Medizin im internationalen Vergleich zukünftig ein wesentlich höherer Entwicklungsgrad zuerkannt werden müssen, als bisher angenommen wurde.

Autoren: Dr. Leopold Dorfer, Univ. Prof. Dr. Maximilian Moser, Dr. Frank Bahr, Univ. Prof. Dr. Konrad Spindler